Forschungsprogramm

Das Konzept der „good governance“ ist mittlerweile weltweit verbreitet und wird von internationalen Organisationen wie der Weltbank und der OECD aktiv propagiert. Darunter fallen allgemeine Normen der guten Regierungsführung wie Transparenz, Partizipation und Verantwortlichkeit („accountability“) der Regierenden, aber je nach Konzeption auch sehr spezifische wie Geschlechtergerechtigkeit, Korruptionsbekämpfung und systematische Evaluation von Politiken. Kataloge von Normen des guten Regierens werden von vielen Instanzen kodifiziert, öffentlichen wie privaten, und sie konkurrieren miteinander. Sie werden praktisch wirksam, indem sie mit Hilfe von Indikatoren quantifiziert, gemessen und durchgesetzt werden. Auch wenn sie üblicherweise in westlich geprägten Institutionen formuliert werden, so erheben sie doch den Anspruch universeller Gültigkeit. Konzeptionen der „good governance“ richten sich gleichzeitig an den öffentlichen und privaten Sektor. Staaten und Kommunen, börsennotierte Unternehmen, Finanzmarktakteure und Nichtregierungsorganisationen – sie alle werden heute nach ihrer Performance auf Skalen der „good governance“ beurteilt und in Rankings eingestellt.

Was den öffentlichen Sektor betrifft, so wird der Aufstieg dieser Normen und Verfahren oft als eine Technokratisierung der Regierungsführung gedeutet, die zumindest das Potenzial hat, klassische Ideale und Praktiken der repräsentativen Demokratie zu verdrängen. Vor diesem Hintergrund stellt sich dieses GRK eine zweiteilige Forschungsfrage, die von den beteiligten Professor*innen und den Kollegiat*innen gemeinsam bearbeitet werden soll. In empirisch-analytischer Hinsicht fragen wir uns, warum Konzepte des guten Regierens so populär geworden sind, wie sie praktisch umgesetzt werden und welche möglicherweise unerwarteten Konsequenzen das hat. In normativer Perspektive fragen wir uns, was dies für die Zukunft der Demokratie als Staatsform bedeutet.

Die innovative Leitidee dieses Graduiertenkollegs ist es, Normen des guten Regierens als Standards zu begreifen und zu analysieren. Die explizite Analogie zur Standardsetzung und zur Technik bringt einige Charakteristiken des guten Regierens auf den Punkt: Normsetzung durch öffentliche und private Akteur*innen, die Existenz konkurrierender Konzeptualisierungen, den Universalisierungsanspruch, den Quantifizierungsbedarf und die Optimierungslogik, die oft mit Standardisierung assoziiert werden. Durch die Verbindung von Forschungsgegenständen, die normalerweise nicht gemeinsam betrachtet werden, ermöglicht diese Leitidee auch einen Dialog der politischen Theorie und Institutionenlehre mit der politischen Ökonomie, den Internationalen Beziehungen (IB), der Rechtswissenschaft und der soziologischen Modernisierungsforschung. Gleichzeitig eröffnet die Idee der „Standards des Regierens“ auch einen neuen Blick auf das Phänomen der Standardisierung selbst. Im Versuch, Regierungsprozesse zu optimieren, wird Standardisierung vom Steuerungsinstrument zu einem selbstreflexiven Unterfangen.

Im Kolleg wird empirisch zu erkunden sein, wie Standards des Regierens entstehen, wie sie sich verbreiten, wie sie in der Praxis operationalisiert werden und wie man versucht, sie durchzusetzen. Um zu verstehen, wie Standards des Regierens empirisch wirken, ist das genaue Studium realweltlicher Praktiken, Kausalzusammenhänge und (möglicherweise kontraintuitiver) Effekte unabdingbar. Der normativen Bewertung der vorgefundenen Ideen und Praktiken gibt das Kolleg ebenfalls Raum. Es wird kritisch zu untersuchen sein, wie sich Standards des Regierens in komplexen, international vernetzten und hochgradig arbeitsteiligen Gesellschaften zum Ideal der Demokratie verhalten, wie sie die Möglichkeit kollektiver Selbstbestimmung stützen, verändern oder auch untergraben. Das GRK kombiniert eine empirische Mikroperspektive auf soziale Interaktionen und Diskurse, in denen Standards des Regierens kodifiziert, propagiert und angewendet werden, mit einer normativen Bewertung aus demokratietheoretischer Perspektive.

Folgende fünf Forschungsfragen sollen die gemeinsame Arbeit anleiten:

1. Wie genau entstehen Standards des Regierens und warum werden sie kodifiziert?

2. Warum verbreiten sich Standards des Regierens über territoriale und möglicherweise auch sektorale Grenzen hinweg?

3. Wie werden Standards des Regierens in der Praxis operationalisiert und wie wird ihre Einhaltung gemessen?

4. Wie wird versucht, Standards des Regierens durchzusetzen und warum formiert sich Widerstand gegen solche Versuche?

5. Welche Folgen hat der Aufstieg der Standards des Regierens und wie sind diese Folgen normativ zu bewerten?

Das Kolleg wird sich zumindest in den ersten Jahren auf vier Politikfelder konzentrieren. Dies sind Wirtschaft und Finanzen, Umwelt und Klimaschutz, Entwicklung und Regionalförderung sowie Grundrechte und Rechtsstaatlichkeit.