Abstract:
Gemäß der föderalen Ordnung der Bundesrepublik sowie der Vorgaben im Infektionsschutzgesetz liegt die Kompetenz für die Formulierung und Umsetzung von Infektionsschutzmaßnahmen bei den Bundesländern. Zwar hat im Zuge der Gesetzesnovelle des Infektionsschutzgesetzes am 25. März 2020 der Bund seine Kompetenzen im Pandemieschutz ausgeweitet und hätte im Prinzip nun das Recht, in bestimmten Themenbereichen auch einheitliche Regulierungen zu erlassen. Bislang hat die Bundesregierung jedoch weitgehend darauf verzichtet, von dieser Kompetenz Gebrauch zu machen. Stattdessen erlassen die Länder – in enger Abstimmung untereinander und mit dem Bund – jeweils eigene Corona-Verordnungen. Dementsprechend erleben wir seit dem Beginn des Pandemie-Lockdowns im März 2020 ein Nebeneinander von 16 Corona-Verordnungen teils unterschiedlichen Inhalts. In den Medien und teils in der wissenschaftlichen Debatte wird deshalb häufig vom ,Flickenteppich‘ gesprochen und die Krisentauglichkeit des deutschen Föderalismus in Zweifel gezogen.
Um empirisch klarer feststellen zu können, wie groß tatsächlich die Unterschiede in den Infektionsschutzmaßnahmen der Länder sind (und wie problematisch dementsprechend die föderale Ordnung für die Bewältigung einer pandemischen Krise ist), wurden in diesem Projekt die Corona-Schutzverordnungen der deutschen Länder im Zeitraum von März 2020 bis Dezember 2020 gesammelt, codiert und ausgewertet. In jedem Monat zur Monatsmitte wurden die aktuell geltenden Corona-Schutzverordnungen der 16 Bundesländer hinsichtlich ihrer Restriktivität gemäß einem Variablenschema mit insgesamt 44 Items codiert. Die Auswertung bezieht sich auf drei Aspekte:
• Erstens wird in einer Themen- und Zeitübersicht für den ersten Lockdown (März bis Juni 2020) dargestellt, welche Arten von Maßnahmen in welchem Bundesland wann eingeführt, geändert oder gelockert wurden. Hierbei wird die gesamte Bandbreite der Infektionsschutz-Maßnahmen – von allgemeinen Hygienemaßnahmen wie Abstandsgeboten oder Maskenpflicht über Regelungen für Reiseheimkehrer, Versammlungs- und Veranstaltungsverbote, Betretensverbote und Verhaltensregeln für Kranken-, Pflege- und Betreuungseinrichtungen, Schließung von Einrichtungen, Betrieben und Gastronomien bis hin zu Regelung von Freizeit-, Sport-, Kultur- und Reiseaktivitäten – betrachtet. Es zeigt sich, dass der Weg in den Lockdown zeitlich eng koordiniert stattgefunden hat und kaum Unterschiede zwischen den Ländern bestehen. Der Weg aus dem Lockdown heraus, also die Lockerung der Maßnahmen, ist jedoch sowohl inhaltlich als auch zeitlich wesentlich uneinheitlicher. Selbst beim Weg aus dem Lockdown heraus zeigen sich aber Effekte der wechselseitigen Beobachtung und Anpassung zwischen den Ländern im Sinne von Best Practices.
• Zweitens wird für einen Ausschnitt dieser Regelungsinhalte (Hygienemaßnahmen, Kontaktbeschränkungen und Versammlungsverbote, Schule und Kita, Handel und Gewerbe, Gastronomie, Tourismus sowie Sport und Freizeit) das Ausmaß der Restriktivität, also der Eingriffsintensität, numerisch codiert. Auf diese Weise werden Restriktivitätsindizes für jedes Bundesland gebildet, die das quantitative Ausmaß sowie die inhaltliche Schwerpunktsetzung der Unterschiede in der Regulierung im Zeitverlauf abbilden können. Unter Zuhilfenahme von Geodaten werden so Restriktivitäts-Landkarten von Deutschland erstellt.
• Drittens werden die Werte auf dem Restriktivitätsindex mit potenziellen Erklärungsvariablen korreliert, um festzustellen, ob systematische Unterschiede zwischen den Bundesländern sich beispielsweise auf die Wirtschafts- und Finanzkraft eines Landes, die parteipolitische Zusammensetzung der Landesregierung oder die relative Nähe zu Wahlen zurückführen lassen.