Der Anachronismus des Krieges

Prof. Steffek leitet ein von der Fritz-Thyssen-Stiftung gefördertes Forschungsprojekt zu Leben und Werk des liberalen russischen Pazifisten Jacques Novicow (1849-1912)

08.03.2022

Das Forschungsprojekt soll das wenig erforschte Leben Jacques [Jakov Alexandrovich] Novicows, seine politischen Ideen und die Wirkungsgeschichte seiner Arbeiten erkunden. Zu Lebzeiten war Novicow, der aus einer Industriellenfamilie in Odessa stammte, ein bekannter öffentlicher Intellektueller und einer der führenden Aktivisten der europäischen Friedensbewegung. In seinen soziologischen Arbeiten entwickelte Novicow eine von der Naturwissenschaft inspirierte, evolutionstheoretische Perspektive auf die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft und die Beziehungen zwischen Staaten. Diese Art der sozialwissenschaftlichen Theoriebildung war im ausgehenden 19. Jahrhundert recht populär, doch Novicow gab dem evolutionären Denken eine interessante Wendung. Anders als Sozialdarwinisten, die gewaltsame Konflikte zwischen Staaten als ein quasi-natürliches Phänomen und somit als praktisch unvermeidlich deuteten, erschien der Krieg Novicow als Anachronismus. Der Wettbewerb zwischen Gesellschaften hatte sich verlagert von der physischen Konkurrenz um Territorien hin zu wirtschaftlicher und intellektueller Rivalität, die durch den so erzeugten Fortschritt am Ende allen Menschen und Weltregionen zu Gute kam. Nicht Staaten oder Gesellschaften befanden sich im Kampf miteinander, sondern die gesamte Menschheit im Kampf mit den Beschränkungen und Gefahren der Natur.